Interview mit Dr. Irina Volf, Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e. V.
05/2024
„Armutssensibles Handeln in der Arbeit mit jungen Menschen“ - worauf es dabei ankommt, erläuterte Dr. Irina Volf beim Eröffnungsvortrag des KARG FACHFORUMS BERATUNG im Mai 2024. Das Treffen, zu dem die Karg-Stiftung in diesem Jahr zum dritten Mal bundesweit wichtige Funktionsträger:innen für die schulische und schulpsychologische Beratung zu Fragen der Begabtenförderung einlädt, dient als Plattform für fachlichen Austausch. Diesmal standen die Lebenslagen hochbegabter Kinder und Jugendlicher im Zentrum, die in ökonomisch, sozial und kulturell benachteiligten Familien aufwachsen - denn jedes 5. Kind in Deutschland ist armutsgefährdet.
Christine Koop, Programmleiterin Beratung der Karg-Stiftung, hat Dr. Irina Volf für Sie interviewt.
Im aktuellen Armutsbericht verzeichnet der Paritätische Bundesverband „einen noch nie gemessenen traurigen Rekordwert“ von 21,8 Prozent. Konkret handelt es sich dabei um fast drei Millionen Kinder und Jugendliche. In einem reichen Land wie Deutschland sprechen wir nicht über absolute Armut, wo Kinder auf der Straße leben oder arbeiten müssen, um zu überleben, sondern über relative Armut. Das heißt, armutsgefährdete Familien haben weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens oder sind auf staatliche Unterstützung angewiesen. Im Jahr 2022 lag die Armutsgefährdungsgrenze in Deutschland bei einer erwachsenen alleinlebenden Person bei 1.186 Euro, bei einer Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2.490 Euro netto pro Monat. Aus Sicht der Betroffenen stellt Einkommensarmut eine Lebensbedingung dar, die mit vielen Einschränkungen und Benachteiligungen einhergeht.
Für Kinder und Jugendliche bedeutet ein Aufwachsen in Armut deutlich mehr als einen Mangel an Geld. Armut schließt von vielen sozialen Aktivitäten aus, hat einen negativen Einfluss auf die Bildungsverläufe der Kinder und steht in einem engen Zusammenhang mit gesundheitlichen Risiken. Das finanzielle „Mithalten-Können“ und der soziale Status bestimmen, zu welchen sozialen Gruppen man Zugang hat und gehört. Kommt niemand zum Geburtstag oder kann man nicht mit auf Schulskikurs fahren, manifestiert sich nachhaltig das Gefühl, dass man nicht dazugehört. Über die Jahre kumulieren Armutsfolgen und hinterlassen ihre Spuren bis zum jungen Erwachsenenalter. Diese Kinder und Jugendlichen erreichen im Durchschnitt schlechtere Bildungsabschlüsse und haben im jungen Erwachsenenalter häufiger mit psychischen Problemen zu tun als junge Menschen ohne Armutserfahrungen.
Damit ein Talent überhaupt entdeckt und gefördert werden kann, brauchen Kinder erstmal eine Chance, neue Aktivitäten auszuprobieren und Spaß daran zu entwickeln. Wenn die Wahl an Aktivitäten in armutsbetroffenen Familien aufgrund von knappen finanziellen Ressourcen sehr begrenzt ist, können die Kinder von sich aus kein Interesse am Erlernen eines Musikinstruments oder einer anspruchsvollen Sportart ohne kontinuierliche Unterstützung von Erwachsenen entwickeln. Zudem fällt es armen Familien nicht leicht, frühzeitig einen Kitaplatz für ihr Kind zu erhalten. So kommen sie später in die Kita und werden nicht selten über weniger Stunden pro Woche betreut als Kinder aus finanziell besser gestellten Familien. Somit werden arme Kinder von talentfördernden Aktivitäten bereits im frühen Alter strukturell ausgeschlossen. Nach der Einschulung verschärft sich die Problematik und die Chancen der armen und nicht armen Kinder für talentorientierte Förderung driften weiterhin auseinander. Das liegt auch daran, dass oft schon im Grundschulalter bereits gezeigte Leistungen Voraussetzung für die Teilnahme an Maßnahmen der Begabtenförderung sind.
Eine Voraussetzung dafür stellt armutssensibles Handeln in der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und ihren Familien dar. Wir unterscheiden dabei zwischen Armutssensibilität als eigenständiger Kompetenz der Fachkräfte und als Qualitätsmerkmal auf struktureller Ebene der Einrichtungen. Armut ist ein komplexes, gesamtgesellschaftliches Phänomen, das einer Bearbeitung auf unterschiedlichen Ebenen bedarf. Da sind alle gefragt – der Bund, die Länder, die Kommunen, die Träger aber auch jede einzelne Fachkraft, die direkt mit armutsbetroffenen Menschen arbeitet.
Armutssensibles Handeln mit Fokus auf das Kind zielt darauf ab, die spezifischen Bedürfnisse und Herausforderungen von Armut betroffener Kinder und Jugendlicher zu erkennen und angemessen sowie ressourcenorientiert darauf zu reagieren. Es gibt drei Säulen des armutssensiblen Handelns, die in einem pädagogischen Kontext wegweisend sind: Wissen, Haltung und Handeln.
Im Bereich Wissen steht das Kind im Mittelpunkt der Analyse. Hier gilt es, umfassende Kenntnisse über die familiäre Situation, persönliche Kompetenzen und die Einbindung des Kindes im sozialen Umfeld zu sammeln. Bevor Aktivitäten und Maßnahmen zur Unterstützung des Kindes entwickelt werden, sollen Fachkräfte über ihre eigene Haltung und die Rolle im Leben des Kindes offen reflektieren, d. h. auch über eigene Ängste, Vorbehalte und Schamgefühle nachdenken. Im Bereich Handeln geht es um konkrete Handlungsmöglichkeiten zur Unterstützung des Kindes und ggf. auch seiner Familie in materieller, sozialer, kultureller und gesundheitlicher Hinsicht. Das Ziel ist es, jedem Kind ein Leben im Wohlergehen zu ermöglichen und (neue) Perspektiven aufzuzeigen.
Armutssensibles Handeln mit Fokus auf die Einrichtungen bedeutet, Armutssensibilität nicht als einmalige Zusatzaufgabe, sondern als einen Prozess zu verstehen. Dieser soll auf verschiedenen Ebenen angestoßen und systematisch umgesetzt werden, um Zugänge für eine gleichberechtige Teilhabe zu ermöglichen bzw. Barrieren abzubauen. Dazu gehört auch, armutssensible Sprache, Materialien und Verfahren einzusetzen und diese offen zu reflektieren. Die drei Säulen des armutssensiblen Handelns mit Fokus auf die Einrichtung sind Konzeption, Fachkräfte und Angebote.
Im Bereich Konzeption soll Armutssensibilität im Selbstverständnis der Einrichtung und im Verhältnis zu anderen Querschnittsthemen wie Diversität, Inklusion und Kinderrechten verankert werden. Im Bereich Fachkräfte geht es vor allem um Möglichkeiten zur Qualifizierung, zur (Selbst-)Reflexion und zum offenen Austausch im Team sowie zur Förderung eines armutssensiblen Sprachgebrauchs in der eigenen Einrichtung. Im Bereich Angebote stehen eine Bestandsaufnahme und kritische Reflektion vorgehaltener Angebote in der eigenen Einrichtung im Fokus. Das Ziel ist es, mögliche strukturelle, finanzielle, organisatorische und räumliche Barrieren für die Nutzung der Angebote zu identifizieren und abzubauen.
HERZLICHen dank FÜR Das GESPRÄCH, FRAU DR. VOLF, und viel Erfolg für Ihre wichtige Arbeit!
Dr. Irina Volf ist Politologin und promovierte Psychologin. Sie leitet die Bereiche „Armut“ und „Radikalisierungsprävention“ am Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. in Frankfurt am Main. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt in der wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation von Modellprojekten, die darauf abzielen, von Armut betroffene Kinder und Jugendliche an Kitas und Schulen pädagogisch zu unterstützen. Die Erkenntnisse ihrer Forschung gibt sie an die breite (Fach-)Öffentlichkeit in Form von Büchern, Artikeln, Vorträgen, Fortbildungen, Interviews und Medienauftritten weiter.
Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS)
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