Interview: Die digitale Transformation in der Beratung

Emily Engelhardt über die Vorzüge und Hürden von digitalen Beratungsformaten

Datum

06/2022

INTERVIEW MIT EMILY ENGELHARDT 

PÄDAGOGIN, EXPERTIN AUF DEM GEBIET DER ONLINEBERATUNG  

 

Unsere Welt wird zunehmend digitaler. Ein beträchtlicher Teil unserer Kommunikation findet heute nicht mehr in Präsenz statt, sondern medial vermittelt über Messengerdienste, soziale Netzwerke und Videoanrufe. Auf diese Wandlung müssen sich auch Einrichtungen einstellen, die Beratung zum Thema Hochbegabung anbieten, wenn sie weiterhin für ihre Zielgruppen erreichbar sein wollen. Falls sie es nicht tun, übernehmen andere diesen Markt – mit Angeboten von ungewisser Qualität.

Das Interview führte Dr. Wiebke Evers, Projektleitung im Ressort Beratung. Es entstand im Kontext des  KARG FACHFORUMS BERATUNG  im Mai 2022, bei dem Emily Engelhardt den Vortrag hielt „Digitale Transformation der Beratung - wie gestalten wir in Zukunft Gespräche?“


 

FRAU ENGELHARDT, BITTE ERKLÄREN SIE UNS ZUM EINSTIEG:
WAS FÄLLT EIGENTLICH ALLES UNTER DEN BEGRIFF „DIGITALE BERATUNG“

Häufig wird unter digitaler Beratung die Videoberatung verstanden, weil diese in den letzten zwei Jahren die Präsenzberatung vielerorts ersetzt hat. Etablierter ist eigentlich der Begriff Onlineberatung, den wir schon seit mehr als 25 Jahren in der psychosozialen Beratungswelt nutzen. Dieser umfasst eher die schriftbasierte Beratung, also Beratung per E-Mail, im Chat oder auch in Foren. Videoberatung ermöglicht im Gegensatz zur schriftbasierten Beratung, dass wir synchron miteinander im Gespräch sind. Damit erfährt der Begriff der digitalen Beratung eine Erweiterung, in dem er die Trennung von Onlineberatung als vorrangig schriftbasierter Beratung und der Präsenzberatung im Sinne von „Wir sind gemeinsam in einem Raum und sprechen miteinander“ aufhebt. 

WORIN SEHEN SIE WESENTLICHE VERÄNDERUNGEN FÜR DIE BERATUNG MIT BLICK AUF DIGITALE FORMATE

Digitale Formate von Beratung lösen die festen Grenzen des Beratungsprozesses auf. Plötzlich stellt sich die Frage: Wann beginnt Beratung eigentlich? Und wo endet sie?Die Anbahnung von Beratungskontakten geschieht heute häufig über digitale Wege. Der erste Kontakt erfolgt häufig über eine E-Mail. Dabei erfährt man als Beratende oft schon ein bisschen mehr über das Anliegen als in einer bloßen Terminanfrage. Daraus ergibt sich die Frage: Was mache ich mit so einer Nachricht? Antworte ich und gebe einen Termin? Oder gehe ich schon inhaltlich auf das ein, was mir da mitgeteilt wird? Genauso erhalten wir vielleicht im Nachgang zu einer Beratung nochmal eine Nachricht. Auch hier ist unter Umständen die Rahmung nicht mehr so klar wie es sonst in klassischen Beratungsgesprächen der Fall ist. Durch diese Auflösung stellen sich auch organisatorische Fragen wie bspw. die der Abrechnung. Die Abrechnung einer Stunde Videoberatung ist klar, aber bei einer E-Mail ist die Frage, was mit reinzählt: das Lesen, das Beantworten. Geschieht das auf Basis der Wortzahl oder des Inhalts? Wie rechne ich Sprachnachrichten ab? Alles, was nicht synchron und zeitlich messbar ist, ist komplizierter abzurechnen. Allerdings gibt es auch dafür Lösungen. 

WAS SIND DIE VORTEILE DIGITALER BERATUNGSFORMATE? 

Ein großer Vorteil ist sicher die räumliche und zeitliche Flexibilisierung. Zum einen müssen die Ratsuchenden keine großen räumlichen Distanzen überwinden. Für Menschen mit langen Anfahrtswegen lässt es sich so leichter organisieren, Beratung in Anspruch zu nehmen. Zum anderen bieten asynchrone Beratungssettings (z.B. E-Mail-Beratung) die Möglichkeit, dass man sein Anliegen dann anbringen kann, wenn es zeitlich für einen passt - unabhängig von den Öffnungszeiten einer Beratungsstelle. Neben diesen eher organisatorischen Vorteilen gibt es auch fachlich einige Gründe, die für digitale Beratung sprechen. So bieten die jeweiligen Kommunikationssettings Besonderheiten, die im Beratungskontext hilfreich sein können. So sind Ratsuchende z.B. in der schriftlichen Beratung nochmal ganz anders in ihrem Reflexionsprozess gefordert. Außerdem ist es z.B. im Videosetting möglich, Personen dazu zuschalten und so weitere Fachexpertise reinzuholen. So können auch Ressourcen geschont werden. 

SICHER FÄLLT ES NICHT ALLEN BERATENDEN LEICHT, SICH AUF DIGITALE FORMATE EINZULASSEN. WELCHE HEMMSCHWELLEN GIBT ES DA

Hemmschwellen sind auf ganz unterschiedlichen Ebenen vorhanden. Auf der einen Seite besteht eine gewisse Technikskepsis oder auch Angst: Beherrsche ich überhaupt die Medien? Weiß ich, wie es um Datensicherheit steht? Was darf ich machen und was nicht? An sich sind dies Dinge, die man lernen kann. Hier bedarf es einfach Informationen und Trainings. Eine andere Hemmschwelle sind die fachlichen Kompetenzen. Die meisten Menschen haben gelernt, Beratungsgespräche in Präsenz zu führen. Jetzt in einem anderen Beratungssetting zu arbeiten, in dem man plötzlich Begrenzungen wahrnimmt, erfordert eine andere Form der Beratung und einen anderen Umgang mit Informationen. Auch hier vergleichen wir alles Neue mit dem gewohnten Präsenzsetting. Aber auch da hat es mal einen Anfang gegeben. Um Hemmnisse abzubauen, ist erstmal ein Umdenken nötig. Wir müssen uns als Beratende an der Lebenswelt der Klientinnen und Klienten orientieren. Deren Bedenken gegenüber digitalen Beratungsformaten sind oft gar nicht so groß wie wir vielleicht glauben. Denn ein beachtlicher Teil unserer Kommunikation findet mittlerweile medial vermittelt statt. Am Ende geht es nicht darum, das eine durch das andere zu ersetzen, sondern die beiden Wege als einander ergänzend zu betrachten. 

GEHT DA NICHT WESENTLICHES VERLOREN, WENN MAN Z.B. NICHT MEHR IN EINE SCHULE FÄHRT, SONDERN SICH ÜBER DIGITALE KANÄLE TRIFFT?

Die räumliche Wahrnehmung und die Beurteilung der Atmosphäre und der herrschenden Stimmung fällt beispielsweise im Videosetting sicherlich schwerer. Aber Begrenzungen gelten für jedes Beratungssetting. Insofern macht es gar nicht so viel Sinn, die Settings generell miteinander zu vergleichen und von besser oder schlechter zu sprechen. Sie sollten nebeneinander betrachtet werden, um beurteilen zu können: Was hilft mir und den Klient:innen? Brauche ich den Eindruck vor Ort? Oder ist es hilfreich, wenn sich Leute mal schriftlich ausdrücken können und ich nicht so beeindruckt werde von dem Drumherum? Wir sollten uns also vielmehr die Unterschiede der verschiedenen Settings bewusst machen und abwägen, was uns für unseren konkreten Fall am besten nutzen könnte. 

DAS KLINGT NACH EINEM PLÄDOYER FÜR EIN „SOWOHL-ALS-AUCH“ STATT EINEM „ENTWEDER-ODER“ HINSICHTLICH DER FRAGE PRÄSENZ ODER DIGITAL. STIMMT DAS

Ja, genau! Gerade das Zusammendenken beider Formate ist interessant. Das sogenannte „Blended Counselling“ verfolgt den Ansatz, in der Beratung beides miteinander zu verbinden. Dabei geht es darum, unterschiedliche kommunikative Settings systematisch miteinander einzusetzen. Dafür muss man sich überlegen: Wie können wir den Beratungsprozess gestalten? An welcher Stelle macht vielleicht auch ein Online-Kontakt Sinn? Wie kann der aussehen? Und wie können wir die Verbindung zwischen den einzelnen Kontakten in den verschiedenen Settings halten? Studien zeigen, dass die Kontaktabbruchsquote, also dass Leute einfach aus Beratungsprozessen aussteigen, durch kurze Online-Kontakte reduziert werden konnte. 

WARUM SOLLTEN WIR UNS AUCH IN DER BERATUNG VON HOCHBEGABTEN, IHREN FAMILIEN UND FACHKRÄFTEN MIT DEM THEMA ONLINEBERATUNG AUSEINANDERSETZEN?  

Die kurze Antwort: Weil es sonst die anderen machen. Und die anderen sind nicht unbedingt fachlich gut qualifiziert. Daher muss es die Aufgabe fachlich gut qualifizierter Stellen sein, über ihre Angebote auch online zumindest zu informieren, um so sicherzustellen, dass die Ratsuchenden an seriöse Beratungsangebote geraten. Für mich ist es keine Frage, ob man sich im Netz positionieren sollte, sondern nur die Frage wie. Viele sind da noch nicht gut aufgestellt. Gründe dafür sind Problematiken wie die Finanzierungsstrukturen, die dafür manchmal nicht gegeben sind, oder die fehlende Qualifizierung. Onlineberatung ist noch nicht in den grundständigen Ausbildungs- oder Studiengängen verankert. Da gibt es nicht nur viel aufzuholen, man muss auch kontinuierlich an den Entwicklungen dranbleiben. Die digitale Kompetenz von Fachkräften in der Beratung wird immer wichtiger werden, um die Menschen auch weiterhin zu erreichen. 

WIE KÖNNEN BERATUNGSSTELLEN DAFÜR SORGEN, DASS IHR ANGEBOT IM NETZ AUCH GEFUNDEN WIRD

Ratsuchende Menschen wissen manchmal gar nicht, dass sie Beratungsbedarf haben. Sie haben eine Frage oder auch ein Problem und öffnen daraufhin eine Online-Suchmaschine. Gerade zu so speziellen Themen wie Hochbegabung: Was finden sie da an qualifizierten und seriösen Informationen und Angeboten? Das wissen Sie wahrscheinlich besser als ich! Der erste Punkt ist also vor allem Suchmaschinenoptimierung und die Vernetzung mit anderen Einrichtungen, um gegenseitig aufeinander zu verweisen. Wenn Ratsuchende über einen Onlinezugang auf eine Seite kommen, sollten sie sofort sehen, welche unterschiedlichen Beratungsmöglichkeiten angeboten werden. 

GERADE IM BEREICH HOCHBEGABUNG IST BERATUNG OFT MIT LANGEN ANFAHRTSWEGEN UND AUCH BERATUNGSKOSTEN VERBUNDEN. DAS FÜHRT DAZU, DASS DER KONTAKT NACH DER DIAGNOSTIK UND ALLGEMEINEN FÖRDEREMPFEHLUNGEN HÄUFIG ABBRICHT.
WELCHE CHANCEN BIETEN HIER DIGITALE BERATUNGSFORMATE

Wenn das Angebot besteht, im Nachhinein auch eine E-Mail schicken zu können, werde ich dies unter den beschriebenen Umständen eher nutzen als einen weiteren Termin zu vereinbaren. Oft stellen sich Ratsuchende auch die Frage: Ist mein Anliegen überhaupt „groß genug“ für ein (weiteres) Beratungsgespräch in Präsenz? Es ist daher wichtig, neben der Präsenzberatung auch weitere Optionen proaktiv anzubieten. Dabei zeigt sich ein Problem unserer aktuellen und sehr etablierten Beratungslandschaft: Es wird immer noch sehr lokal gedacht, da Beratung oft aus lokalen Töpfen finanziert wird. Das funktioniert in unserer heutigen Welt eigentlich nicht mehr. Man könnte mit den vorhandenen Ressourcen ganz anders umgehen, wenn eine stärkere Vernetzung stattfinden würde. In vielen anderen Bereichen unseres Lebens passiert genau das und zwar aus guten Gründen! 

SIE HABEN DIE NOTWENDIGE QUALIFIZIERUNG FÜR DIGITALE BERATUNG ANGESPROCHEN. WORAUF KOMMT ES DABEI INSBESONDERE AN

Zunächst braucht es natürlich eine gewisse technische Kompetenz. Man muss die eingesetzten Medien technisch beherrschen und auch einschätzen können. Zudem benötigt man methodische Kompetenzen für die jeweiligen kommunikativen Settings digitaler Beratung. Man muss in der Lage sein, seine Gesprächsführung und Methoden an den Rahmen anzupassen. Der dritte Punkt ist das Thema Datenschutz und Datensicherheit. Dafür braucht es ein Bewusstsein. Manchmal findet die Anbahnung von Beratungskontakten online über unsichere Wege statt (z.B. über soziale Netzwerke oder in einem Chat). Da ist es wichtig, die Überleitung in einen sicheren Rahmen zu schaffen. Das viel genutzte Argument „Das dürfen wir aus Datenschutzgründen nicht!“, stimmt so einfach nicht. Es gibt eigentlich für alles mittlerweile eine sichere und DSGVO-konforme Lösung. Man muss es nur wollen und auch finanzieren. 

IN DER BEGABTENFÖRDERUNG SIND BESTIMMTE GRUPPEN STARK UNTERREPRÄSENTIERT. DAS BETRIFFT Z.B. KINDER UND JUGENDLICHE MIT MIGRATIONSHINTERGRUND ODER AUS SOZIOÖKONOMISCH BENACHTEILIGTEN VERHÄLTNISSEN.
ERLEICHTERN DIGITALE BERATUNGSANGEBOTE DEN ZUGANG FÜR DIESE GRUPPEN

Grundsätzlich haben inzwischen nahezu alle Zugang zum Netz. Über 90% der Deutschen ab 14 Jahren nutzen täglich das Internet. Aber wie nutzen sie das Internet und wofür? Welche Kompetenzen haben sie in der Nutzung des Internets? Da unterscheiden sich einzelne Gruppen schon stark und das, was wir häufig auch offline an sozialer Ungleichheit sehen, reproduziert sich tatsächlich auch in der Nutzung im Netz. Insofern ist es ein wichtiger Auftrag zu schauen, wie wir auch Menschen, die keine oder nur sehr eingeschränkte Medienkompetenzen haben, befähigen können, teilzuhaben. Denn soziale Teilhabe ist inzwischen eben auch digitale Teilhabe! 

WAS SOLLTE MAN BEACHTEN, UM DIGITALE BERATUNGSANGEBOTE MÖGLICHST NIEDRIGSCHWELLIG ZU GESTALTEN

Eine Beratung per E-Mail stellt für viele Ratsuchende eine eher hohe Schwelle dar. Dafür muss man in der Lage sein zu reflektieren und sein Anliegen so zu schildern, dass jemand Fremdes dies auch verstehen kann. Eine kurze Nachricht über einen Messenger zu schicken und dann dialogisch mit Unterstützung durch jemanden das Anliegen mitzuteilen, ist da schon um einiges niedrigschwelliger. Um seine Zielgruppe auch tatsächlich zu erreichen, ist es wichtig zu schauen, welche Zugangswege diese nutzen und welche Beratungssettings sie am besten abholen. Aus der Forschung wissen wir, dass wir auch mit der Präsenzberatung nicht alle erreichen. 

HABEN SIE NOCH EIN FAZIT FÜR UNS

Die Frage, online zu beraten oder nicht, stellt sich eigentlich gar nicht mehr. 
Seien Sie mutig und legen Sie los! 




ZUR PERSON 


Emily Engelhardt ist Pädagogin (M.A.), Systemische Beraterin & Supervisorin (SG), Onlineberaterin und Online-Supervisorin, Lehrende für Onlineberatung und Dozentin für Systemische Beratung.
WWW.DER-DREH.NET 

Berufliche Erfahrungen in der freien Wirtschaft (Automobilkonzern) sowie in der sozialen Arbeit als fachliche Leitung einer Onlineberatungsstelle für Jugendliche sowie eines Integrationsfachdienstes. Langjährige Geschäftsführerin am Institut für E-Beratung der TH Nürnberg. Selbständig als Supervisorin und Trainerin für Systemische Beratung und Onlineberatung; Autorin des „Lehrbuch Onlineberatung“, Podcast „der dreh“. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Onlineberatung, Digitale Sozialarbeit sowie Digitalisierung und Beratung 

 

GRAPHIC RECORDINGS
Die Graphic Recordings hat Thorsten Ohler von „chartflipper“ am 12.05.2022 auf dem Karg Fachforum Beratung im Rahmen des Vortrags von Emily Engelhardt „Digitale Transformation der Beratung - wie gestalten wir in Zukunft Gespräche?“ angefertigt. 

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